Heute ist „Selbstverwirklichung“ ein fast magisches Wort. Jeder Mensch sehnt sich danach, die eigenen Talente und Begabungen in seinem Leben einzusetzen. Das ist richtig. Das stärkt das Selbstbewusstsein und führt zur inneren Zufriedenheit. Diese wiederum ist Voraussetzung, um zum Glück zu gelangen. Und jeder Mensch strebt nach dem Glück, ganz gleich ob er arm oder reich ist.
Zum Glücklich-Sein gehört aber auch die Fähigkeit zur Selbstüberwindung. Auf etwas verzichten zu können ist im menschlichen Leben eine unabdingbare Voraussetzung zum Glücklichsein. Ich muss z.B. manchmal ein Opfer bringen, wenn ich nicht gegen die Liebe zum Mitmenschen verstoßen will. Der Nächste hat auch ein Recht auf Selbstverwirklichung. Dieses Recht muss ich sehen und akzeptieren. Sonst stehe ich in der Gefahr, ein Egoist zu werden, der nur sich selbst sieht und anerkennt, der nur seinen eigenen Vorteil gelten lässt.
Sich selbst zu überwinden, ist unangenehm und bereitet manchmal seelischen Schmerz. Andererseits schenkt Opfer und Selbstüberwindung dem Menschen größeres Selbstwertgefühl, innere Freude und Zufriedenheit.
Wir dürfen, ja wir sollen unsere Gaben und Talente im Alltag einsetzen. Aber wir dürfen dabei nicht das Recht der Selbstverwirklichung unserer Nächsten aus dem Blick verlieren. Es ist etwas Schönes und Ermutigendes, wenn Personen, die in einer Lebensgemeinschaft leben, die Erfahrung machen, dass alle Mitglieder der Gemeinschaft nach den gleichen Grundsätzen und Idealen streben und danach leben. Das gibt Kraft, das Schwere und Aufreibende des Gemeinschaftslebens zu bejahen und zu tragen.
Lieben und geliebt werden! Danach strebt jeder Mensch hier auf Erden, ganz gleich welcher Hautfarbe, welcher Nation er angehört, gleich ob er reich oder arm ist. Liebe hat ein unaufgebbares Fundament, auf dem sie steht: Die Fähigkeit, sich selbst zu überwinden, Opfer zu bringen. Und das kann Schmerz bereiten. Es gibt keine – auf Dauer angelegte Liebe – ohne den Schmerz, ohne Selbstüberwindung. Und doch ist das Stärkste in der Liebe die innere Freude, die sehnsuchtsvolle Zufriedenheit, ja das Glücklichsein, nicht das Leiden.
Selbstverwirklichung ohne Opfer führt zum Egoismus. Wir müssen auch den Anderen in seiner Andersheit akzeptieren, denn auch wir erwarten, dass uns die Anderen akzeptieren, wie wir sind – anders. Jeder Mensch ist ein Unikat.
Als Christen stehen wir in der Nachfolge Jesu. Wir versuchen so zu leben wie er gelebt und gelehrt hat. Auch Jesus ist in seinem Leben massiv mit dem Leiden konfrontiert worden. Es war aber immer ein Leben aus Liebe für uns Menschen. Aus Liebe für uns ist er am Kreuz gestorben. Darum gehört auch für uns als Christen das Opfer und das Kreuz zum Leben dazu. Das letzte Ziel unseres Lebens aber ist die Freude, nicht das Leiden. Und dieses Ziel nennen wir „Himmel“, dahin wollen wir alle kommen. Himmel bedeutet „bei Gott sein“, und das ist allergrößte Freude, unermessliches Glück.
von P. Dr. Martin Bialas CP